ENTRÜCKTE ERINNERUNGSRÄUME


Wolfram Scheffels Bildthemen paraphrasieren seit mehreren Jahren zwei klassische Gattungen, die Landschaft und die Stadtdarstellung. (…) Sie greifen berühmte landschaftliche Orte auf, zeigen Sehenswürdigkeiten, die Teil unseres kulturelles Gedächtnisses geworden sind wie die Felsen von Etretat, die die Impressionisten begeisterten, den Jardin de Luxembourg in Paris oder die Lagune von Venedig (…). Gleißendes Licht bringt Hauswände und Schneefelder gleichermaßen zum Leuchten. Schräg einfallende Sonnenstrahlen sorgen für scharfe Kontraste. Selten fehlen die dramatischen Schatten. Jedes Bild gehorcht einer eigenen Stimmung. Keines lässt den Betrachter indifferent. 

Die Bilder sind streng komponiert, Bildaufbau, Farbwirkung und Perspektive präzise kalkuliert. Vorzeichnungen und Skizzen vor Ort gehen den Gemälden voraus, die Ausführung reduziert allerdings auf einfachere Gebilde. Konturen werden hart gezogen. Mit der klaren Formbestimmung korrespondiert die Verpflichtung der Farbe auf reine, ungebrochene Töne, welche mit dem Spachtelmesser aufgetragen werden. Blanke Oberflächen, bereinigt von subjektiven Spuren, treten zueinander in Beziehung. Der Schritt zum farbigen Holzschnitt, den es im Werk Wolfram Scheffels ebenso gibt, wird hier antizipiert. (…) 

Der Gegenstand ist unverzichtbar, denn an ihm entzünden sich Formfragen. Das malerische Thema kreist damit um die Realien und ihre Verortung im Bildraum, wobei die Vereinfachung der Bildmotive den im Vordergrund stehenden Formgedanken in besonderer Weise akzentuiert. So ist der Landschafts- oder Architekturausschnitt – das Panorama kommt nur selten vor – auch nicht Inspirationsquelle für innere Bilder. Die vorgefundene Konstellation unterliegt keiner Idealisierung. Von metaphorischen Funktionen oder symbolischen Anspielungen befreit treten uns individuelle Erinnerungsräume von eindrücklicher Präsenz gegenüber, die in ihrer Glätte ebenso verstören wie Neugierde beschwören.

Doch entziehen sie sich jeglicher persönlicher Annäherung. Jede Assoziation zu den Gegenständen wird verunmöglicht, Anhaltspunkte, die die Phantasie des Betrachters beflügeln könnten, werden vermieden. Landschaft und Architektur geben keinerlei Auskunft über ihre Befindlichkeit, sie sind zu Form erstarrt. Die Schönheit der Bilder nimmt beinah gespenstische Züge an.

Im Zusammenspiel der Farbflächen konkretisieren sich die Motive in einer abstrahierten Weise. Meer und Himmel werden als blaue Fläche visualisiert, Grün steht für Grasflächen, auch Wegen wird in ihrer Gesamtheit eine eigene Farbe zugewiesen. Naturalismus in der Ausgestaltung wird vermieden, das Materielle wird  nicht weiter ausdifferenziert. Die Physiognomie der Erdoberfläche existiert nicht, es gibt keine Wellen und keine Blätter, es ist kein Putz an den Wänden, es sind keine Ziegel auf dem Dach zu identifizieren. Anzeichen der Zivilisation sind ebenso eliminiert, die Ausblicke sind unbelebt, menschenleer. (…) Dies alles bewirkt, dass der Bildgegenstand trotz der expressiven Farbgebung entgleitet, dass die so vertraut anmutenden Szenerien seltsam entrückt erscheinen und in ihrer Unberührtheit ein Moment des Irrealen bergen. Die Frage, wie sich der Mensch zu seiner natürlichen und gebauten Umgebung verhält, wird scheinbar nicht aufgeworfen, doch steht sie – gerade aufgrund der neutralisierten Darstellungsweise – latent im Raum. Vielleicht ist es uns heute nur mehr möglich die Schönheit der uns umgebenden Dinge in der Fernsicht, die vom eigentlichen Zustand absieht, zu erspüren. (…)  

Prof. Dr. Sigrid Hofer
(Katalog Marburger Kunstverein, 2007)